Kommentar Forschung
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02.09.2022

„Wir brauchen ein starkes Signal für die mittelstandsgeprägte Forschung in Deutschland“

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Schweissen und Schneiden

„Wir brauchen ein starkes Signal für die mittelstandsgeprägte, branchenrelevante Forschung in Deutschland“

Dipl.-Ing. Jens Jerzembeck, Geschäftsführer der Forschungsvereinigung Schweißen und verwandte Verfahren e. V. des DVS, im Interview.

Deutschland ist eines der weltweit führenden Innovationsländer. Laut dem Globalen Innovationsindex aus dem Jahr 2021, der die Leistung des Innovationsökosystems von 132 Volkswirtschaften ermittelt und von der World Intellectual Property Organization veröffentlicht wird, liegt die Bundesrepublik im internationalen Vergleich auf Platz 10. Großen Anteil daran haben namhafte Forschungsinstitute ebenso wie der deutsche Mittelstand. Rund 50.000 kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) aus der Industrie sorgen in Deutschland mit ihrer Innovationskraft dafür, dass allein im vergangenen Jahr im Rahmen der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) fast 1.900 anwendungsorientierte Forschungsprojekte entwickelt und umgesetzt wurden, im Bereich der Füge-, Trenn- und Beschichtungstechnik waren es mehr als 200 Forschungsprojekte.

Die Industrielle Gemeinschaftsforschung hat sich in dieser Zeit als das erfolgreichste Förderprogramm für diese gemeinsamen vorwettbewerblichen Forschungsthemen in Deutschland etabliert. „Ein weltweit einzigartiges und gut funktionierendes Netzwerk, das weiter gestärkt werden muss“, fordert Dipl.-Ing. Jens Jerzembeck, Geschäftsführer der Forschungsvereinigung Schweißen und verwandte Verfahren e. V. des DVS, im Interview.

Herr Jerzembeck, Forschung hat eine große Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätze in Deutschland. Darin sind sich Politiker, Wissenschaftler und Unternehmer einig. Warum bedarf es dafür eines eigenen Netzwerkes?

Forschung funktioniert nicht im luftleeren Raum. Die Ideen und der Bedarf an relevanten Themen, die die Unternehmen voranbringen, müssen aus der Praxis kommen. Die echten Anwender – in unserem Fall sind das die herstellenden Betriebe und die Werkstätten aus dem Mittelstand, die sich mit dem Fügen, Trennen und Beschichten beschäftigen – wissen am besten, welche Verfahren erforscht werden müssen, damit sie ihre aktuellen und künftigen Produkte oder Dienstleistung optimieren und sich wettbewerbsfähig aufstellen können.

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Den Unternehmen zur Seite stehen Hochschulen und andere Forschungseinrichtungen, die gerade in unserem Fachgebiet im In- und Ausland ein exzellentes Renommee haben. Dabei geht es eben nicht um wissenschaftliche Grundlagenforschung, sondern um anwendungsbezogene Forschung, die vor dem Wettbewerb am Markt initiiert wird. Um hier relevant für die Branche zu sein, muss der Impuls für die einzelnen Forschungsprojekte aus dem Markt selbst kommen.

Wie können kleine und mittelständische Unternehmen sich einbringen, wenn sie keine Mittel für eigene Forschungsabteilungen oder -labore haben?

Hier kommt die DVS Forschung ins Spiel. Als Forschungsvereinigung für ihre Branche hat sie alle Bereiche des Fügens, Trennens und Beschichtens im Blick und arbeitet anwendungsorientiert und nah am industriellen Bedarf. Die DVS Forschung bündelt die Projektideen, die aus den mittelständischen Unternehmen kommen, und ist ein kompetenter Ansprechpartner für sie. Sie bringt Unternehmen mit den forschenden Einrichtungen zusammen und beantragt für ihre Branche die entsprechenden Forschungsprojekte mit den jeweilig benötigten Fördermitteln.

Was haben die Unternehmen Ihrer Branche davon?

Die DVS Forschung partizipiert nicht direkt an den beantragten Fördermitteln. Diese werden zu 100% den Forschungseinrichtungen zur Verfügung gestellt, damit diese die Projekte durchführen können. Die Forschungsergebnisse hingegen erhalten die Unternehmen der Branche vollumfänglich in Form von Veröffentlichungen. Das können Konferenzvorträge sein oder Beiträge in Fachzeitschriften, Berichte oder auch DVS-Richtlinien und -Merkblätter oder Normen.

Neben der DVS Forschung gibt es zum Beispiel für andere Branchen andere gemeinnützige Forschungsvereinigungen, wie die Forschungsvereinigung Antriebstechnik e. V. oder den Forschungskreis der Ernährungsindustrie e. V., um nur zwei von aktuell insgesamt 100 zu nennen.

Ist das eine Lösung, die langfristig funktionieren kann?

Die Industrielle Gemeinschaftsforschung hat sich als Förderprogramm in Deutschland über 70 Jahre erfolgreich weiterentwickelt. In einer Anfang des Jahres veröffentlichten Evaluationsstudie des Bundeswirtschaftsministeriums ist die IGF als „effektives Instrument der Forschungsförderung mit hohem Alleinstellungscharakter“ bewertet worden. Eine Fortführung wird dringend empfohlen.

Die Arbeitsgemeinschaft industrieller
Forschungsvereinigungen „Otto von Guericke“ e. V., kurz AiF, koordiniert dieses Förderprogramm im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz
(BMWK). Im ersten Quartal 2022 wurden so viele Anträge bei der AiF eingereicht wie nie zuvor in der Geschichte des Förderungsprogramms. Ein wichtiger Hinweis für uns, dass es – trotz der schwierigen pandemischen Lage – an Ideenreichtum und Entdeckergeist in Deutschland nicht mangelt.

Ein Ideenreichtum, von dem die Branche profitiert?

Ja, die Unternehmen der Branche profitieren davon, die Forschungsinstitute, aber auch und vor allem die Gesellschaft. Die Ergebnisse aus dem Förderprogramm IGF unterstützen die Bundesregierung bei den großen Zielen, die gerade in der heutigen Zeit an Bedeutung gewinnen: bei der Energiewende, bei dem verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen oder der digitalen Transformation.

Dipl.-Ing. Jens Jerzembeck ist Geschäftsführer der Forschungsvereinigung Schweißen und verwandte Verfahren e. V. des DVS, kurz DVS Forschung. - © DVS
Dipl.-Ing. Jens Jerzembeck ist Geschäftsführer der Forschungsvereinigung Schweißen und verwandte Verfahren e. V. des DVS, kurz DVS Forschung. © DVS

Gerade kürzlich haben wir mit der DVS Forschung eine Studie zum Thema „Fügetechnik für die Wasserstoffökonomie –
Werkstoffe, Schweißtechnologien, Perspektiven“ vorgelegt. In ihr erläutern wir, welche Anforderungen an die Fügetechnik im Zusammenhang mit der Erzeugung, der Speicherung, dem Transport und der Nutzung von Wasserstoff gestellt werden. Oder nehmen wir ein Beispiel, das von zentraler Bedeutung für alle ist, die in Deutschland leben und arbeiten: Brückensanierung. Hier haben wir mit einem abgeschlossenen Forschungsprojekt im Jahr 2019 das Potenzial einer innovativen Sanierungsmethode verifizieren können. In diesem Projekt haben Ermüdungsversuche an rissbehafteten Proben gezeigt, dass durch eine geklebte CFK-Verstärkung eine erhebliche Verlängerung der Restlebensdauer von Brücken erreicht werden kann.

Was ist aus Ihrer Sicht jetzt nötig?

Notwendig ist ein klares Bekenntnis zur Forschungsförderung seitens der Bundesregierung. Konkret bedeutet dies Investitionen, Stärkung des Forschungsnetzwerkes und Planungssicherheit für den Mittelstand in Deutschland. Als Investition sieht der Bundeshaushalt für das laufende Jahr für die Industrielle Gemeinschaftsforschung gegenüber dem Haushaltsentwurf von 180 Mio. Euro zusätzliche 8,8 Mio. Euro vor. Das ist ein gutes Zeichen für die mehr
als 50.000 kleinen und mittelständischen Unternehmen, die sich in diesem Förderprogramm engagieren.

Erwähnt werden muss an dieser Stelle aber auch, dass im Jahr 2021 über 200 Millionen Euro Fördermittel bereitgestellt wurden. Der tatsächliche Forschungsbedarf konnte allerdings auch mit diesen Mitteln nicht zufriedenstellend umgesetzt werden.

© pixabay.com/angelo luca iannaccone
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Wie hoch sollte die Förderung Ihrer Meinung nach sein?

Hier sind 300 Millionen Euro pro Jahr für das Förderprogramm IGF als realistische Untergrenze anzusehen. Zahlreiche industriegetragene Forschungsthemen finden immer noch nicht den Weg aus der Schublade heraus. Dabei geht leider kontinuierlich wertvolles Innovationspotenzial verloren – zum Nachteil des Industriestandortes Deutschland.

Sie fordern auch die Stärkung des Forschungsnetzwerks. Warum?

Die erfolgreiche Fortführung dieses Netzwerks kann aus meiner Sicht nur über die einzelnen Mitglieder, nämlich die Forschungsvereinigungen, umgesetzt und getragen werden. Sie kennen ihre Branche, ihre Unternehmen und den jeweiligen Forschungsbedarf am besten. Sie können entsprechende Forschungsvorhaben auf den Weg bringen.

Als letzten Punkt nannten Sie Planungssicherheit.

Ja, hier ist die Bundesregierung gefragt, ein deutliches Signal zu setzen, damit die gemeinnützigen Forschungsvereinigungen weiterhin als Botschafter und Transferorganisationen in beide Innovationsrichtungen ihrer Branche agieren können, sowohl in Richtung der Forschungsfindung als auch in Richtung des Ergebnistransfers. Geklärt sein muss, wie die Fördermittel aus dem IGF-Programm künftig vergeben werden. Denn nur so ist gewährleistet, dass die Impulse und Ideen aus den deutschen Unternehmen Innovationen ermöglichen, die Arbeitsplätze schaffen, das Steueraufkommen erhöhen und den Energiebedarf reduzieren – und die so langfristig für unsere gesamte Gesellschaft wertvoll sind.

Aktuell wird von Seiten des BMWK diskutiert, ob das Förderprogramm womöglich bereits ab dem kommenden Jahr
grundlegend reformiert werden soll. Ob das Industrielle Netzwerk der rund 50.000 kleinen und mittelständische Unternehmen mit seinen Forschungsvereinigungen dabei dann noch eine Rolle spielen wird, bleibt abzuwarten. Für den „German Mittelstand“ würden damit große Chancen vergeben werden. Genau deshalb brauchen wir jetzt ein starkes Signal für die mittelstandsgeprägte, branchenrelevante Forschung in Deutschland.

(Quelle: DVS Forschung. Das Interview führte Isabel Nocker, Pressesprecherin des DVS – Deutscher Verband für Schweißen und verwandte Verfahren e. V.)

Schlagworte

AiFBeschichtungstechnikDigitalisierungEnergiewendeFügetechnikIGFIndustrielle GemeinschaftsforschungRessourceneffizienzTrenntechnik

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